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AutorenbildTom Christopher Hoops

It’s a blame: Täter-Opfer-Umkehr und der Fall P-Diddy


Trigger-Warnung: Sexuelle und psychische Gewalt.

 

Kaum ein anderes Thema löst derzeit auf Social Media so viel Entsetzen aus wie die Vorwürfe gegen Rapper und Produzent Sean Combs aka Diddy aka P. Diddy aka Puff Daddy aka Love (kein Witz).

Gegen den 54-jährigen US-Promi klagen derzeit 120 Personen und werfen ihm Missbrauch vor. Missbrauch in allen Facetten und Schattierungen. Betäubung, Erpressung, gewaltsamer Sexhandel, Vergewaltigung – just to name a few. Aber das Ausmaß wird deutlich, oder? Kein Wunder, dass unmittelbar Gedanken an Jeffrey Epstein aufkommen.


So entsetzlich es ist: Vergewaltigungsopfer sehen sich besonders häufig der Täter-Opfer-Umkehr ausgesetzt. Aufreizende Kleidung, laszive Sprache oder Signale des (vermeintlichen) Einverständnisses sind Ausreden derjenigen, die von sich als Täter (kein Gendern notwendig) ablenken wollen.

Combs sitzt wie Epstein, der sich 2019 vor einem Urteil gegen ihn das Leben nahm, in Untersuchungshaft in New York City. Genau genommen in Brooklyn. Combs Anwälte versuchen seit Monaten, ihren Mandanten auf Kaution aus dem „Brooklyn Metropolitan Detention Center“ zu holen, boten dafür sogar 50 Millionen US-Dollar.

Gleichzeitig ist sich der mutmaßliche (so muss es derzeit korrekt heißen) Täter stand jetzt keiner Schuld bewusst, streitet alle Vorwürfe gegen ihn ab, lässt sogar umgekehrt verkünden, dass er Opfer der „Cancel Culture“ würde. Die Klagen seien „klare Versuche, Publicity zu erlangen“.

Denn auch wenn, ausdrücklich betont, aktuell kein Urteil gegen Combs vorliegt, erweckt die Vielzahl der Vorwürfe Zweifel daran, dass er „nie jemanden sexuell angegriffen habe“, wie seine Anwälte mitteilen.

Texte zu den einzelnen Vorwürfen gibt es zur Genüge. Wer diese jetzt nachlesen möchte, kann das hier tun, sich Podcasts anhören, mit kritischem Blick für manipulierte und KI-Inhalte auf TikTok nachschauen oder auf Instagram, Facebook, X. Es ist überall. Was im Meer der Schicksale zu kurz kommt: Das systematische Verdrehen der Rollen von Klage und Anklage. Besser bekannt als die „Täter-Opfer-Umkehr“.

Im Englischen heißt das Phänomen „Victim Blaming“ und ist im Grunde der billigste Trick, die Schuld von sich zu weisen – und dem Opfer zuzuschieben. In der Kriminologie wird die Entwicklung einer Person vom Opfer zum Täter als „Viktimisierung“ bezeichnet.


So entsetzlich es ist: Vergewaltigungsopfer sehen sich besonders häufig der Täter-Opfer-Umkehr ausgesetzt. Aufreizende Kleidung, laszive Sprache oder Signale des (vermeintlichen) Einverständnisses sind Ausreden derjenigen, die von sich als Täter (kein Gendern notwendig) ablenken wollen.

Doch auch in kleinerem – und weniger strafrechtlich relevanten – Kontext kommt das Phänomen vor und verschmilzt auf dieser Ebene mit dem „Gaslighting“. In zwischenmenschlichen Konflikten ist damit der Vorwurf gemeint, dass die Person nicht klar, rational denken könne, nicht das verstanden habe, was eigentlich gesagt oder mit Taten bewirkt werden wollte. Oder kurz: die Schuld wird geschoben, die Rollen umgekehrt.

Das Konzept funktioniert in so gut wie jedem Bereich. Das Muster ist immer dasselbe:

Von Mobbing Betroffene befeuern mit ihrer gesellschaftlich inkompatiblen Art die Sticheleien. Opfer rassistischer Anfeindungen reagieren zu sensibel auf Sprache. Unterdrückte Personen werden in Wahrheit nicht diskreditiert, sondern sind lediglich dünnhäutig, schüchtern, spaßbefreit. Opfer von häuslicher Gewalt hätten schließlich schon längst einen Schlussstrich unter die Beziehung ziehen können. Klagen vor Gericht sind letztlich Effekthascherei, der verzweifelte Ruf nach Aufmerksamkeit, das Bedürfnis, von der Prominenz anderer zu profitieren. Rufschädigung beklagen statt Täterschaft eingestehen.




Und nicht nur im Laufe eines Prozesses wirkt der „Trick“. Oftmals dient er einfach zur Abschreckung, indem damit Aussichtslosigkeit suggeriert wird. Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (bff) verweist in einem Beitrag darauf, dass lediglich fünf bis 15 Prozent aller Vergewaltigungen angezeigt werden. Eingeschüchtert und verunsichert von einem potenziell neuen Spin der Wahrheit, durch den die Rollen verdreht werden. Und der allgemeinen Aussichtslosigkeit, die Täter vor Gericht nicht zur Rechenschaft ziehen zu können, weil ein Großteil der Klagen ohnehin ohne Verurteilung endet.


Parallel dazu muss der „Opfer“-Begriff an sich infrage gestellt werden. Fakt ist, dass Betroffene sich diese Rolle nicht ausgesucht haben, sondern in diese gedrängt werden. Dabei ist der Begriff zumeist negativ konnotiert, was den Umständen einer Straftat nicht gerecht wird. Schließlich müssen Betroffene zunächst selbst mit der Situation zurechtkommen, sind vor allem auf sich alleine gestellt. Im Diskurs über die Umkehr der Rollen fehlt dieser Aspekt oftmals.

 

Umso beeindruckender ist es, wenn Betroffene sich trotz der verdrehten Vorwürfe zur Wehr setzen. Ein weiteres prominentestes Beispiel ist zurzeit der Fall von Gisèle Pelicot, die von ihrem Ehemann jahrelang betäubt und von ihm und weiteren Männern vergewaltigt wurde. Die 72-Jährige ist derzeit das Gesicht vieler, die Ähnliches durchmachen mussten und immer noch müssen. Trotz der statistisch belegbaren, schlechten Chancen vor Gericht Recht zu bekommen und dem öffentlichen Medien-Trubel, beweist Pelicot Mut und Courage damit, sich auch stellvertretend gegen ihren Ex-Mann Dominique Pélicot zu wehren. Und sich damit der Umkehr der Rollen nicht wehrlos auszusetzen.


Derzeit, so scheint es, sind viele Menschen auch im Fall Diddy nicht abgeschreckt. Die vielen Klagen und Hinweise deuten darauf hin. Wohl aber gelang die Abschreckung in dem komplexen Machtgefüge des Produzenten jahrelang. Zumindest bis sich die betroffene Sängerin Cassie und Rapper Lil Rod an die Öffentlichkeit wendeten – viele Prominente schweigen indes immer noch.

Wenn Anfang Mai 2025 der Prozess gegen Combs startet, bleibt dessen Strategie abzuwarten. Es gilt die Unschuldsvermutung, aber die Masse der Klagen und die bisher veröffentlichte Beweislast lässt den Hip-Hop Mogul schon lange nicht mehr in weißer Weste dastehen. Absurd ist der Gedanke, das Combs und seine Anwält:innen für jeden der einzelnen Fälle eine spezifische Ausrede im Sinne der Täter-Opfer-Umkehr auftun werden. Undenkbar ist es jedoch nicht, denn pauschal passiert es bereits jetzt.

 

Wenn ihr Opfer von psychischer, physischer oder sexueller Gewalt geworden seid, sind dies Anlaufstellen für Hilfsangebote:

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