*Triggerwarnung: in diesem Beitrag geht es um sexuelle Belästigung und Gewalt an Frauen.
Kurz vorher
Ich gehe alleine. Ich gehe alleine tagsüber und ich gehe alleine nachts. Manchmal höre ich sogar so laut Musik, dass ich nicht mehr mitbekomme, was um mich herum passiert. Wenn Freund*innen mich fragen, ob sie mich nach Hause bringen sollen, lehne ich dankend ab. Warum sollte mich jemand bis zu meiner Haustür begleiten? Das schaffe ich sehr gut alleine – ich bin doch niemand, um den man sich kümmern muss. Ich fühle mich sicher. Über den Vorschlag meiner Mutter, mir mal einen Alarm an meinen Schlüsselanhänger zu machen, lächle ich nur. Was soll mir schon passieren. Natürlich ist mir Sexismus ein Begriff. Auf Partys mache ich mich gerne unbeliebt, wenn jemand frauenfeindliche und sexistische Bemerkungen macht. Ich lese viel und mache auch selbst meine Erfahrungen mit Catcalling und unangenehmen Situationen. Erst vor Kurzem hat mir ein Mann in einer Männergruppe hinterhergerufen: „Zieh mal deinen Rock hoch, dein Arsch schwingt so schön.“, gefolgt von lautem, einstimmigem Gelächter. Mein Schritt ist zielstrebiger geworden, mein Herzschlag schneller, ich habe nicht gelacht. Doch wirklich nachhaltig beschäftigen wird mich diese Situation nicht. Sie ist viel zu alltäglich dafür. Es ist ja nichts passiert. Meistens fühle ich mich stark, unabhängig und unantastbar. Ich kann mich um mich selbst kümmern und bin fest davon überzeugt: es gibt nichts, das ich nicht alleine schaffen könnte. Keine Situation, der ich nicht gewachsen bin.
Vier Jahre vorher
Ich bin 18 Jahre alt und habe mir gerade Tinder heruntergeladen. Ein Typ fragt mich, ob wir einen Wein trinken gehen wollen. Ein paar Tage später stehe ich in Hamburg am Hauptbahnhof. Er holt mich mit seinem Auto ab. Ich steige ein und wir fahren los. Irgendwie aber nicht zu der Bar, die wir geplant hatten. Er sagt mir, dass er sich dachte, dass es bei ihm zuhause wohl gemütlicher wäre. Ich schweige. Immer mehr Häuser ziehen an mir vorbei, irgendwelche Felder. Ich habe keine Ahnung mehr, wo ich bin. Auf die Idee, mein Handy in die Hand zu nehmen und jemandem meinen Standort zu schicken, komme ich nicht. Es ist doch nur ein Date. Er ist doch ein netter Typ. Bei ihm angekommen trinken wir tatsächlich Wein und reden. Dann reden wir nicht mehr. Erst habe ich Lust und mache mit – will genauso mit ihm schlafen, wie er auch mit mir. Irgendwann fühlt es sich aber nicht mehr richtig an. Ich sage nein. Er macht weiter. Ich drücke ihn weg. Er macht weiter. Ich sage wieder nein. Er sagt, wer die zusammenpassende Unterwäsche anhat, legt es doch darauf an. Anscheinend bestimmt die Wahl meiner Unterwäsche den Wert meines Neins. Er nimmt mich nicht ernst. Ich sage nicht mehr nein – richtig ja sage ich aber auch nicht. Er fährt mich zum Bahnhof und bedankt sich für den schönen Abend. Er will mich wiedersehen. Ich ihn nicht. Ich sitze im Zug und schäme mich. Mache mir Vorwürfe, wie naiv und dumm ich war. Gebe mir die Schuld und bin dankbar, dass „nichts“ passiert ist. Auf die Frage wie mein Date war, antworte ich mit „gut“ und spreche vier Jahre lang nicht mehr über diesen Abend.
Hallo Sagen
Es ist ein Montagnachmittag. Ich gehe alleine spazieren. Ein Mann und ein Blick, der mich auszieht. Meine Stimme wehrt sich gegen den Blick. Und als wären meine Worte eine Einladung gewesen, spüre ich auf einmal seine Hände auf mir. Überall. Und immer wieder die gleichen Worte von ihm: „Ich will dir doch nur Hallo sagen, warum darf man dir nicht Hallo sagen?“. Ich will mich wehren, will etwas erwidern. Aber meine Kraft reicht nicht. Reicht nicht aus, meine Stimme erneut zu erheben und erst recht nicht, um meinen Körper von seinen Händen zu befreien. Ich fühle mich so unfrei. Seine Freiheit über meinen Körper zu verfügen, nimmt mir meine. Wahrscheinlich waren es nur wenige Sekunden, für mich fühlt es sich aber an, wie eine Ewigkeit. Alles dreht sich. Meine Ohren rauschen. Mir ist schlecht. Irgendwann reagiert mein Körper, bewusst geschieht das aber nicht. Ich fange an, ihn anzuschreien. Er lässt mich los. Ich laufe.
Danach
Ich weine nicht, aber die Berührungen auf meiner Haut wiegen schwer. Ich dusche. Der Druck bleibt. Ich dusche. Der Druck bleibt. Ich dusche. Der Druck bleibt.
Später
Ich bin in Berlin. Innerhalb von drei Tagen werden meine Freundinnen und ich mehrmals belästigt, verfolgt und beleidigt. Ich äußere mich auf Instagram über sexuelle Belästigung und Sexismus. Über Ecken erfahre ich, dass Memes über mich erstellt werden. Ich dürfe mich darüber nicht äußern, so wie ich aussehe und so freizügig, wie ich mich präsentiere. Mir wird wieder schlecht. Seit wann entscheidet ein Bild von mir im Bikini darüber, zu welchen Themen ich eine Meinung haben darf. Ich weine viel – endlich.
Irgendwann kommt die Entschuldigung. Man wusste ja nicht, dass mir „wirklich etwas Schlimmes“ passiert sei. Anscheinend ist das endlich ein ausreichender Grund, sich nicht mehr darüber lustig zu machen. Dumme Sprüche hinter meinem Rücken bleiben. Ich nerve mit meinem Feminismus-Gelaber. Ich übertreibe.
Gut, dass dir das passiert ist
„Irgendwie ist es ja gut, dass dir das passiert ist. Du kannst wenigstens damit umgehen.“
Jetzt
Ich gehe nicht mehr alleine. Zumindest nicht mehr mit gutem Gefühl und nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Musik auf dem Heimweg höre ich auch nicht mehr. Stattdessen habe ich in der einen Hand meinen Schlüssel als Waffe. In der anderen Hand halte ich mein Handy, bereit einen Notruf abzusetzen, während im Hintergrund eine App läuft, die meine Liebsten über meinen Standort informiert. Mittlerweile bete ich insgeheim, dass meine Freund*innen mir anbieten, mich nach Hause zu bringen. Einfordern möchte ich es nicht, aber jeder Schritt alleine macht mir Angst. Jedes Geräusch lässt mich zusammenzucken, jeder fremde Blick bringt mein Herz zum Rasen. Das Haus zu verlassen, ohne jemandem Bescheid zu geben, wann ich wo bin, ist undenkbar. Ich träume viel, weine viel, denke viel darüber nach und schlafe wenig. Bei jeder unerwarteten Berührung eines fremden Menschen spüre ich sofort wieder den Druck auf der Haut. Wenn jetzt jemand einen sexistischen Spruch loslässt, nehmen meine Gefühle sofort überhand. Entweder ich fange sofort an laut zu werden oder ich stehe sofort auf und gehe. Kann auch „nicht so gemeinte“ Scherze nicht mehr ertragen. Manchmal teile ich meine Gedanken, Gefühle und Ängste mit meinen Freund*innen – oft behalte ich es für mich. Möchte nicht mehr nerven mit meinem Feminismus-Gelaber. Will nicht der Grund sein für betroffenes Schweigen und fassungslose Gesichter. Will keine rollenden Augen mehr sehen und keine gedankenlosen Witze hinter meinem Rücken. Will kein Mitleid und will nicht hören, wie gut ich damit umgehe. Denn nein, es ist nicht gut, dass mir das passiert ist. Und nein, ich kann nicht damit umgehen.
Das Gute ist aber: Ich habe verstanden, dass ich das auch gar nicht können muss.
Ich darf Angst haben und traurig sein. Ich darf weinen. Ich darf überfordert sein und verzweifelt. Aber ich darf auch wütend sein. Ich darf mich zu Sexismus und sexueller Gewalt äußern. Ich darf mich stolz als Feministin bezeichnen. Und gleichzeitig darf ich Bikini-Bilder posten so viel ich es möchte. Ich darf mich so freizügig anziehen, wie ich mich wohlfühle. Ich darf dabei sogar meine Nippel zeigen. Ich darf körperliche Nähe zulassen. Ich darf auch weiterhin Sex haben - so oft und mit so vielen verschiedenen Partner*innen, wie es sich für mich richtig anfühlt. Ich darf mich gegen sexistische Sprüche und Catcalling wehren. Ich darf meine Stimme erheben.
Aber ich darf auch schweigen. Ich darf mein 18-Jähriges Ich in den Arm nehmen und mir sagen: es ist nicht deine Schuld. Ich darf mir Hilfe holen. Und ihr dürft das alles auch.
J.
Die Verfasserin möchte anonym bleiben.
Bildquelle: https://equineteurope.org/2018/international-day-to-end-violence-against-women/
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