Moment mal, Sklaverei? Gab es das nicht zuletzt in der Antike? Ach ne, auf Baumwollplantagen in den USA, oder? Weit gefehlt! Laut dem International Labour Office (ILO) leben zurzeit rund 40 Millionen Menschen in Sklaverei. Und es geht noch weiter: Mit Menschenhandel wird jährlich ein geschätzter Umsatz von 130 Milliarden Euro erzielt. Das muss man erstmal sacken lassen. Verstehe ich.
Ich weiß noch genau, wie ich vor fünf Jahren zum ersten Mal von diesen Zahlen gehört habe. Und zwar durch ein Video der Menschenrechtsorganisation International Justice Mission (IJM), das eine Freundin von mir auf Facebook geteilt hat. Ich hatte davor noch nie von moderner Sklaverei gehört und konnte es einfach nicht fassen. Ich meine, dass war 2016 und es war eben nicht der transatlantische Sklavenhandel gemeint, sondern das, was jetzt passiert. Das Thema hat mich total beschäftigt und nicht mehr losgelassen. Ich habe mich danach in meinem näheren Umfeld umgehört – viele gebildete, gut informierte und sozial-interessierte Menschen – aber auch da wusste niemand wirklich davon.
Tatsächlich ist moderne Sklaverei nicht nur „ein aktuelles Problem“, sondern es ist drängender als je zuvor. Fakt ist: Heute leben mehr Menschen in Sklaverei als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte. Sie werden ausgebeutet und missbraucht – und das obwohl heutzutage weltweit eigentlich kein Staat Sklaverei rechtlich legitimiert.
Der Global Slavery Index (GSI) ermittelt regelmäßig, wie viele Menschen weltweit unter Zwang in sklavenähnlichen Verhältnissen leben. Der letzte GSI ist von 2018. Unter moderner Sklaverei fasst der GSI Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft, Zwangsehe und Menschenhandel. Aber das gibt es doch nicht in unseren Breitengeraden, denkt ihr euch jetzt vielleicht. Doch, das gibt es auch bei uns in Deutschland.
Die unangenehme Wahrheit ist: Moderne Sklaverei ist ein verborgenes, alltägliches Problem. Der GSI 2018 geht davon aus, dass in Deutschland rund 167.000 Menschen in Sklaverei oder sklavenähnlichen Verhältnissen leben. In Österreich und der Schweiz je etwa 15.000. Ein großer Teil davon sind Menschen, die zwangsprostituiert werden. Viele davon sind Opfer von Menschenhandel.
Ich weiß, das waren schon ganz schön viele Zahlen, aber eine muss noch sein: 71 Prozent der versklavten Menschen weltweit sind Frauen und Mädchen. Sie sind damit überproportional von moderner Sklaverei betroffen. Laut ILO vor allem bei Zwangsarbeit in der Privatwirtschaft (einschließlich Hausarbeit und Sexindustrie) und Zwangsheirat. Männer werden dagegen häufiger vom Staat oder Industrieumfeldern ausgebeutet. Mensch ist Mensch, es geht nicht darum etwas gegeneinander „aufzuwiegen“. Ich plädiere stattdessen dafür zu hinterfragen, wieso Sklaverei in unserer modernen Welt überhaupt noch einen Platz hat.
2018 hatte ich die Möglichkeit, die Arbeit von IJM durch ein Praktikum im Hauptquartier der Menschenrechtsorganisation in Washington D.C. mitzuerleben. Kurz bevor ich in die USA geflogen bin, kam ich mit einem älteren Bekannten ins Gespräch. Ich erzählte ihm von den 40 Millionen Menschen, die heutzutage in Sklaverei leben. „Lohnt es sich überhaupt jetzt noch etwas dagegen anzufangen?“, fragte er mich. „Das ist doch aussichtslos.“ Ich könnte viel über meine Zeit bei IJM erzählen, möchte an der Stelle aber gerne eine Kleinigkeit teilen: Immer, wenn davon berichtet wurde, dass ein Einsatz geglückt ist, Menschen in Sicherheit kamen, war die Freude im ganzen Büro riesengroß. RIESENGROSS. Und zwar unabhängig davon, ob 200 oder „nur“ eine einzige Person befreit werden konnte. Denn: „Natürlich!“, antwortete ich damals dem Bekannten, ohne zu zögern. Jede einzelne Person zählt.
Lasst uns Unwissenheit in Bewusstsein und dieses Wissen wiederum in Stärke umwandeln. Denn fest steht: Moderne Sklaverei ist mit Befreiungsaktionen und psychologischer Hilfe für die Opfer allein (leider) nicht vorbei, es ist ein gesellschaftliches Problem. Deshalb: Schaut hin und legt den Finger in die Wunde.
Wann? Zum Beispiel am 25.02.2021. Wie jedes Jahr im Februar findet der „Shine A Light On Slavery Day“ des End it Movements statt. Einem Zusammenschluss weltweit führender Organisationen und Personen, die daran glauben, dass wir der Sklaverei und dem
Menschenhandel noch zu unseren Lebzeiten ein Ende setzen können. Malt euch ein rotes Kreuz auf die Hand, macht ein Selfie, postet es mit #ENDITMOVEMENT auf dem Kanal eurer Wahl und kommt mit Menschen dazu ins Gespräch. Denn: „Action starts with Awareness.“
Johanna Ronsdorf