Mentale Gesundheit
Die mentale Gesundheit ist nicht greif-, nicht quantifizier-, geschweige denn vergleichbar – weder für eine/n selbst noch für Außenstehende. Sie ist komplex. Wie Politik oder der Klimawandel. Damit genauso wichtig und mutmaßlich deshalb thematisch ebenso unsexy, schlichtweg nicht attraktiv genug dafür, dass sich die große Mehrheit der Menschen damit täglich intensiv und tiefgehend auseinandersetzt.
Journalistische Medien und die, die es sein wollen, thematisieren die mentale Gesundheit, mal mehr, mal weniger seriös. Zehn Tipps gegen Depressionen. Wem soll damit geholfen sein? Zugegeben: Das ist etwas überspitzt. Andererseits: ZEIT Campus veröffentlichte vor Kurzem ein komplettes Magazin zu der Thematik: „Wie fühlst du dich?“, ist die zentrale Frage darin. Interviews mit Studierenden, Psycholog*innen, Erfahrungsberichte, ein Rundumschlag auf 162 Seiten, konstruktiv, ohne den Anspruch, die Leser*innen danach „geheilt“ zu haben. Es ist eine Handreichung. Mehr auch nicht. Mehr kann es auch nicht sein, denn mentale Gesundheit entsteht nicht durchs Lesen, weder durch die ZEIT noch durch diesen kleinen Blog – noch durch die besten Muntermacher-Tipps gegen depressive Episoden. Mentale Gesundheit setzt Handeln voraus, das über das Lesen hinausgeht.
15 Prozent aller Ausfalltage bei der Arbeit sind auf psychische Erkrankungen zurückzuführen, das zeigt der DAK Gesundheitsreport 2023. Dabei stieg der Anteil der Fehltage im Vergleich zum Vorjahr deutlich an: Im Berichtsjahr 2022 dauerte eine Krankschreibung aufgrund einer mentalen Erkrankung im Durchschnitt 36,6 Tage. Über einen Monat. Das sollte sowohl Arbeitnehmenden als auch Arbeitgebenden auf den Plan rufen, sich mit der eigenen psychischen Verletzlichkeit auseinanderzusetzen bzw. zusammenzusetzen – wie man es sieht. Zudem geht es dabei nicht um Alltagsstress, der oft pauschal dazu missbraucht wird, mentale „Befindlichkeiten“ einfach wegzubügeln, ohne sich genauer damit zu beschäftigen. Stattdessen führen überwiegend depressive Episoden und rezidivierende depressive Störungen, sich wiederholende Depressionen, zu den meisten Arbeitsunfähigkeitstagen, gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen.
Letztere werden ausgelöst durch veränderte Lebensumstände, meist im privaten Umfeld: Die Trennung von dem/der Partner*in oder ein Trauerfall. Gleichzeitig liegen dem auch Flucht und Naturkatastrophen zugrunde. Ein Blick auf die derzeitige Weltlage reicht: Tendenziell nimmt die Zahl der belastenden Ereignisse zu und sie hängen sogar unmittelbar zusammen. Ein kaputtes Weltklima, das nicht repariert, dessen Wandel lediglich gedrosselt werden kann, führt zu Umweltkatastrophen, die Milliarden von Menschen aus ihrer bald unbewohnbaren Heimat vertreiben – und es heute schon tun. Ein kurzer Exkurs: National Geographic hat ein interaktives Tool entwickelt, mit dem jede/r für sich prüfen kann, wie sich die Klimazone in der eigenen Heimat bis 2070 entwickelt. Zu dem Zeitpunkt hat zum Beispiel Hamburg das Klima von der bulgarischen Stadt Vidin erreicht, die rund 1800 Kilometer entfernt im Süden der Hansestadt liegt. Als eine von 90 Städten weltweit gibt es für Hanoi, die Hauptstadt Vietnams, keinen Vergleichswert denn die Region wird laut National Geographic 2070 so heiß sein, wie es derzeit kein Ort auf dem Planeten Erde ist.
Zurück in die Arbeitswelt. Arbeitnehmer*innen haben mit steigendem Alter immer häufiger Fehltage wegen psychischer Belastungen, Frauen noch viel öfter als Männer. Tragen Frauen eine höhere Last im Alltag? Sollte die Lebenserfahrung einen nicht schützen, resistent werden lassen gegenüber zum Teil unkontrollierbaren, äußeren Einflüssen? Die Antworten darauf liefert der DAK Gesundheitsreport nicht. Allerdings zeigt er, dass die mentale Gesundheit bei der Arbeit eine zentrale Rolle spielt. Er zeigt Handlungsbedarf auf. Wir sollten uns damit beschäftigen. Jetzt mehr denn je.
Paradoxerweise war mentale Gesundheit gefühlt noch nie so präsent im gesellschaftlichen Diskurs wie heutzutage. Infolge der Corona-Pandemie legten Forscher*innen zig Studien zur Auswirkung von Isolation und Angst vor dem Virus vor. Im Fokus stehen dabei zumeist Kinder, die nicht zur Schule gehen, die Freund*innen nicht sehen, ihre Jugend nicht ausleben können. Doch nur für eine Gruppe Menschen in diesem Zusammenhang zu sprechen, wäre fatal. Ganz gleich in welcher Lebensphase, ungeachtet der geschlechtlichen Identität, dem sozialen Umfeld, der politischen Orientierung, ob mit oder ohne Migrationshintergrund: Wir wollen alle gesund sein, physisch wie psychologisch. In den sozialen Online-Netzwerken kursieren unzählige Posts zu der eigenen psychischen Verfassung, dem Umgang mit depressiven Episoden und auch das „soziale“ Medium der Arbeitswelt, LinkedIn, ist voll mit Aufrufen, mehr Rücksicht auf die mentale Gesundheit bei der Arbeit zu nehmen. Darüber geredet wird viel, im Zweifel jedoch nicht von den Menschen, die selbst betroffen sind. Auch ist der Fokus falsch gesetzt. Das beschreibt Dr. Eva Schneider, Expertin für mentale Gesundheit, in einem Post auf LinkedIn: „Wir sind längst an einem Punkt angekommen, an dem wir nicht nur darüber sprechen müssen, wie wir mit hohen Krankenständen umgehen sollen. Sondern darüber, wie wir uns gesund halten können.“ Word.
Das geht eben nur, wenn wir darüber reden; und vor allem, wenn wir anfangen zuzuhören. Jede/r von uns sollte seinen Mitmenschen das Gefühl vermitteln, dass die mentale Gesundheit nicht einzig und allein mit sich selbst ausgefochten werden muss. Dass es jemanden gibt, der/die zuhört. Dass es viele andere gibt, denen es genauso geht – das steht fest! Arbeitsverhältnisse erschweren das, unmöglich ist es keinesfalls. Wer es möchte, kann auch bei der Arbeit anderen das Gefühl vermitteln, für sie/ihn da zu sein. Auch wenn allein dadurch eine Depression nicht zum Ende kommt: Es ist eine Handreichung.
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